Neue Nährwertkennzeichnung Nutri-Score – Interview mit Waltraud Fesser, Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz

Stand: 12/17/2020
Lange wurde geprüft, diskutiert und gerungen, nun gibt es seit November auch in Deutschland den Nutri-Score auf verpackten Lebensmitteln. Entwickelt wurde diese Kennzeichnung in Frankreich und befindet sich dort schon seit 2017 auf vielen Produkten.

Frage von Redaktion Newsletter (RN):
Braucht es denn überhaupt eine weitere Nährwertkennzeichnung neben den EU-einheitlichen Pflichtkennzeichnungen?
Waltraud Fesser (WF):
Die Pflichtkennzeichnung zu den Nährwerten steht auf der Rückseite der Verpackung in Tabellenform. Angegeben werden müssen der Brennwert und die Nährstoffe Fett, gesättigte Fettsäuren, Kohlenhydrate, Zucker, Eiweiß und Salz. Geregelt ist das EU-weit in der Lebensmittelinformationsverordnung, kurz LMIV. Wer die Werte kennt, weiß aber noch nicht, ob das viel oder wenig ist. Hier hilft der Nutri-Score. Das Label auf der Vorderseite eines verpackten Lebensmittels bewertet das Lebensmittel. Zu erkennen ist das auf einen Blick an einem farblich unterlegten Buchstaben von A bis D. Ein Lebensmittel mit grün unterlegtem A hat dabei die günstigste, ein rot unterlegtes D die ungünstigste Nährstoffzusammensetzung.

Agence nationale de santé publique

RN: Der Weg zur neuen Kennzeichnung war lang. Was waren die Hindernisse?

WF: Im Koalitionsvertrag der derzeitigen Bundesregierung ist eine vereinfachte Nährwertkennzeichnung vorgesehen. Es bestand also Handlungsbedarf. Viele Jahre gab es jedoch Widerstände aus der Lebensmittelwirtschaft gegen ein farblich unterlegtes Kennzeichnungssystem. Zunächst war dabei das britische Ampelsystem im Kreuzfeuer der Kritik. Bei dieser Kennzeichnung werden einzelne Nährstoffe (Fett, gesättigte Fettsäuren, Zucker und Salz) in Fertiglebensmitteln mit Ampelfarben bewertet. Die Lebensmittelwirtschaft intervenierte erfolgreich gegen diese Einteilung in gesunde und weniger gesunde Lebensmittel.
In den skandinavischen Ländern setzte sich das Keyhole-Modell, eine Positivkennzeichnung durch. Dieses „Schlüsselloch-Modell“ aus Schweden zeigt ein weißes Schlüsselloch auf einem grünen Untergrund. Es darf auf den Produkten getragen werden, die wenig Zucker, Fett und Salz enthalten, dafür aber ballaststoffreich sind.
In Deutschland wurde vom Max-Rubner-Institut (MRI) zunächst eine Studie u.a. zur Verständlichkeit verschiedener Modelle angelegt. Anschließend hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) eine Verbraucherbefragung zu vier Kennzeichnungsmodellen durchgeführt. Der Nutri-Score ging eindeutig als Sieger hervor. Bundesministerin Julia Klöckner hat sich daraufhin ebenfalls auf das Modell festgelegt. Seit November 2020 kann der Nutri-Score durch eine Änderung der Durchführungsverordnung zur LMIV rechtssicher in Deutschland angewendet werden.


RN: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein?

WF: Jeder Hersteller, der freiwillig den Nutri-Score auf seine Produkte aufbringt, berechnet diesen selbst. Die Santé publique France, die nationale französische Gesundheitsbehörde, hat den Nutri-Score als Marke registrieren lassen und vergibt auf Antrag das Siegel und die Vorgaben zur Berechnung. Das BMEL unterstützt die Unternehmen mit ins Deutsche übersetzten Formularen.
Beschließt ein Unternehmen, das Label für eine oder mehrere seiner Marken zu verwenden, ist es verpflichtet, es für alle Kategorien von Produkten zu nutzen, die es unter seinen im Nutri-Score registrierten Marken in den Verkehr bringt. Hierfür hat das Unternehmen in der Regel zwei Jahre Zeit.


RN: Wurden die Verbraucher*innen im Vorfeld gefragt?

WF: Ja, wie oben kurz erwähnt, wurden die Ergebnisse einer Studie mit mehr als 1600 Teilnehmer*innen im Sommer 2019 veröffentlicht: Bei den Verbraucher*innen hat der Nutri-Score dabei deutlich als bestes von vier Modellen abgeschnitten. Im Rahmen der Verbraucherbefragung im Auftrag des BMEL haben 90 Prozent der Befragten den Nutri-Score als "schnell und intuitiv verständlich" bezeichnet. 85 Prozent finden, dass er "gut beim Vergleich verschiedener Produkte" hilft.


RN: Wie wird der Nutri-Score berechnet - gibt es einheitliche Kriterien?

WF: Der Nutri-Score wird mit einem wissenschaftlich erstellten Algorithmus berechnet. Zunächst werden die Lebensmittel einer von vier Gruppen zugeordnet: allgemeine Lebensmittel,Speisefette und -öle, Käse, Getränke. Dann werden Punkte vergeben für problematische Bestandteile wie gesättigte Fettsäuren, Salz, Zucker und Energiegehalt. Berücksichtigt mit Punkten werden aber auch günstige Bestandteile wie Ballaststoffe, Proteine, Obst, Gemüse und Nüsse. Die Gesamtpunktzahl ergibt sich aus der Summe der Punkte für unerwünschte Nähr- und Inhaltsstoffe abzüglich der Summe der Punkte für günstige Bestandteile. Die errechnete Gesamtpunktzahl wird über eine vorgegebene Zuordnung in die einzelnen Stufen von A (grün) über C (gelb) bis E (rot) eingeordnet. Dabei gilt: Je niedriger die Gesamtpunktzahl, umso höher ist die Nährwertqualität des entsprechenden Lebensmittels.


RN: Sind die Kriterien auf Dauer festgelegt?

WF: Nein, Frankreich hat sich bereits damit einverstanden erklärt, dass Kriterien wissenschaftlich fundiert angepasst werden können. Ein Kritikpunkt an den derzeitigen Kriterien ist die gesonderte Betrachtung von Käse, die auf den französischen Ernährungsgewohnheiten basieren, die aber nicht EU-weit übertragbar sind. Aus Sicht der anderen EU-Länder schneidet der Käse zu positiv ab.
In Frankreich gelten hier andere Gewichtungen als bei der Bewertung der „allgemeinen Lebensmittel“.


RN: Was sind die Vorteile der vereinfachten Kennzeichnung, welches die Nachteile?

WF: Vorteile:
Der Nutri-Score bezieht sich immer auf 100 Gramm oder 100 Milliliter eines Lebensmittels. Damit lassen sich Produkte innerhalb einer Produktkategorie auf einen Blick leicht vergleichen. Zudem erleichtert er die Wahl von Lebensmitteln mit einer günstigeren Nährwertbilanz. Eine gut erkennbare vereinfachte Nährwertkennzeichnung kann auch dazu beitragen, dass Hersteller die Zusammensetzung ihrer Produkte verbessern.
Nachteile:
Der Hauptnachteil jeder vereinfachten Kennzeichnung ist, dass nicht alle Bestandteile des Lebensmittels erfasst werden. So bleiben beim Nutri-Score beispielsweise Vitamine und Mineralstoffe, aber auch Zusatzstoffe außen vor. Ein Produkt mit gutem Nutri-Score muss nicht bei jedem einzelnen Inhaltsstoff gut abschneiden und wird auch nicht automatisch zu einem gesunden Lebensmittel. So hat eine mit Zucker gesüßte Cola ein rotes E während eine nur mit Süßstoff gesüßte Cola auf ein hellgrünes B kommt. Das macht letztere als Durstlöscher dennoch nicht empfehlenswert, da sie viele Zusatzstoffe enthält und vor allem das Empfinden für Süßes nicht gesenkt wird.


RN: Der Nutri-Score ist ein Baustein hin zu weniger ungesunden Lebensmitteln im Einkaufskorb. Was wünscht sich eine Verbraucherschützerin angesichts nach wie vor hoher Zahlen von Übergewicht und daraus resultierender Krankheiten noch von den Gesetzgeber*innen?

WF: Der Nutri-Score ist eine Maßnahme in die richtige Richtung, reicht aber alleine nicht aus, um Übergewicht und ernährungsmitbedingten Krankheiten wirksam zu begegnen. Hier muss im Rahmen einer ganzheitlichen Ernährungsstrategie ein geeigneter Instrumentenmix zur Anwendung kommen.
Die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie der Bundesregierung erkennt zwar an, dass es eine Veränderung des Lebensmittelangebotes und des Ernährungsumfeldes braucht, um Verbraucher*innen eine gesunde Ernährung zu erleichtern und die gesunde Wahl einfacher zu machen. In der Umsetzung ist die Strategie jedoch nicht ambitioniert und nicht konsequent genug.
So zeigen die Ergebnisse des Produktmonitorings des MRI, dass es teilweise posi-tive Veränderungen bei den Zuckergehalten bestimmter Kinderlebensmittel gibt. Es wird jedoch auch deutlich, dass Produkte, die sich an Kinder richten, häufig immer noch zu den zuckerreichsten innerhalb der jeweiligen Produktgruppe zählen. Joghurts mit Kinderoptik liegen trotz erfolgter Reduktion immer noch über den Zuckergehalten der meisten anderen Joghurtzubereitungen, die nicht für Kinder beworben werden.
Freiwillige Reduktionsschritte, welche die Lebensmittelindustrie selbst bestimmen kann, sind mit Blick auf Produkte für Kinder nicht ausreichend. Hier muss es gesetzliche Regelungen geben. Diese sollten zwingend den Nährwertkriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entsprechen oder ansonsten nicht an Kinder vermarktet werden dürfen. Das betrifft neben der Verpackungsgestaltung auch Werbemaßnahmen.

Das Redaktionsteam bedankt sich für die informativen Beiträge zum Interview bei Waltraud Fesser, Fachbereichsleiterin Lebensmittel und Ernährung bei der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz.


Weitere Informationen zum Nutri-Score finden Interessierte beispielsweise hier:
Christina Rempe: Nutri Score: Nährwertvergleich auf einen Blick, im Internet unter bzfe.de (Zugriff 17.12.2020)


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